Eine Begegnung im Wald

Story by Nosnibor on SoFurry

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Eine kleine Träumerei, die mir vor ein paar Jahren beinahe passiert wäre. Naja, zumindest wünschte ich mir damals wohl, es wäre passiert. Am Vorabend zu viel Furryzeugs gelesen, kennt man ja...


Der folgende Text mag ungewöhnlich ausführlich oder gar langatmig erscheinen. Das liegt daran, daß es nicht viel zu erzählen gibt, denn es ist nicht viel passiert, aber ich will möglichst alle Details schriftlich festhalten, damit ich mir selbst noch glauben kann, wenn ich das in zehn Jahren noch einmal lese. Details sind es, die die Realität vom Traum oder der Einbildung unterscheiden. Natürlich merkt man nicht, daß die Details fehlen, während man träumt, denn das Bewußtsein ist ja vom Traum gesteuert und achtet nur auf das, was der Traum zeigt, aber hinterher kann man feststellen, daß die Geschichte Lücken hat. Diese Geschichte aber soll keine Lücken haben, denn was geschehen ist, war real. Außerdem möchte ich nicht nur den "Film im Kopf" ablaufen lassen, sondern auch die Eindrücke und Wahrnehmungen erwähnen, die damals unbewußt zu meinen Reaktionen und Empfindungen beitrugen, um möglichst die Ereignisse in ihrer Gesamtheit zu dokumentieren. Das führt zwangsläufig zu einer ungewohnt langatmigen Erzählweise.

Wer den vorigen Absatz von Anfang bis Ende durchgelesen hat, ohne die Mitte zu überspringen, der mag auch die folgende Geschichte interessant finden. Allen anderen rate ich, ihre Zeit nicht damit zu verschwenden; es gibt genug spannenderen Lesestoff im Netz, und genug Material, das in jeder Hinsicht wertvoller ist, ohne eure Geduld so zu strapazieren.

Natürlich handelt es sich um eine Rekonstruktion, denn es ist ja schon einige Jahre her und ich erinnere mich nicht mehr an alles so genau. Und überhaupt ist ja jede Erzählung, jeder Bericht eine Rekonstruktion, auch "live" berichtete Beobachtungen, die zwar nicht von späteren Erfahrungen, wohl aber vom Vorwissen des Erzählers gefärbt sind.

Ich wanderte also durch den sonnigen Frühlingswald.

Was heißt Frühlingswald genau? Besonders attraktiv, dekorativ oder hübsch ist der Wald hier in der Gegend ja nie, aber es war Frühling, und an dieser Stelle hat der Wald einen hohen Anteil an Laubbäumen, ich glaube Buchen, während ja sonst überall nur Kiefern stehen, und Unterholz natürlich. Und diese Laubbäume haben im Frühling neue Blätter in frischem hellem Grün, geradezu leuchtend, wenn die Sonne hindurchscheint. Und die Sonne schien, und der Himmel war blau, und die Luft war klar, was wohl bedeutet, daß es relativ kalt gewesen sein muß und ich die Sonne daher als besonders wärmend und angenehm empfand.

Und was heißt Wandern? In meinem Fall ist das eher Spazierengehen, aber wenn ich sage, daß ich der Gesundheit zuliebe darauf achte, wenigstens jedes zweite Wochenende einen langen Spaziergang zu machen, komme ich mir gleich doppelt so alt vor wie ich sowieso schon bin. Und andere Leute, mit kürzeren Beinen, haben mein Spaziergangstempo gelegentlich als anstrengend empfunden, wobei ich zugeben muß, daß es niemandem, der regelmäßig Sport treibt, schwer fiele, mit mir mitzuhalten oder mir davonzulaufen, aber andere Leute spazieren eben in deutlich geringerem Tempo.

Also nenne ich es lieber Wandern; das suggeriert ein gewisses Mindestmaß an körperlicher Anstrengung und dem Bestreben, Neues zu sehen, nicht immer die gleiche Strecke zu gehen. Und eine gewisse Vorbereitung: zu einem Spaziergang nimmt man vielleicht einen Regenschirm mit, zu einer Wanderung aber zumindest noch etwas Proviant und eine Landkarte.

Also wanderte ich durch den sonnigen Frühlingswald. Das hört sich übertrieben romantisch an, wenn man den fraglichen Wald kennt, denn er liegt nahe an der Stadt und ist entsprechend überlaufen, man hört die Autobahn und gelegentlich einen Zug, und es ist echt nichts besonderes an dem Wald, und als langjähriger Stadtbewohner muß ich schon oft an genau dieser Stelle vorbeigekommen sein, nur vielleicht nicht aus genau dieser Richtung.

Es muß an einem Samstag gewesen sein, denn Sonntags ist der Wald dort so voller Spaziergänger, daß es mir keinen Spaß macht. Sonntags suche ich Einsamkeit lieber im Industriegebiet. Samstags aber sind die potentiellen Spaziergänger in der Stadt zum Einkaufen, und die Waldarbeiter haben Wochenende, so daß man den Wald für sich haben kann, soweit das Auge reicht.

Also wanderte ich an einem Samstag vor einigen Jahren durch den sonnigen Frühlingswald, auf einem geraden Weg vom See in Richtung der Bahnlinie, wobei ein gerader Weg im Wald heutzutage ja nicht mehr mit positiven Assoziationen verbunden ist, sondern ganz prosaisch die Jagengrenze anzeigt und meist tiefe Spuren von den Fahrzeugen der Waldarbeiter aufweist, während ein krummer Weg romantisch ins Dickicht führt, wohin Maschinen nicht folgen können. Dieser Weg war schon eine Weile nicht befahren worden, aber breit genug dafür und wies schön festen, trockenen Boden auf, weder Matsch noch Sand noch die Neigung dazu; ideal zum bequemen, zügigen Wandern.

Und hier war eine Kreuzung, ein anderer Weg kam quer, ein etwas schmalerer Weg, der nicht so geradeaus lief. Die Maschinen hätten ihn zwar nutzen können, aber viel Lenken wäre nötig gewesen, um den Bäumen am Rand des Weges auszuweichen. Und dieser Querweg bildete, zumindest auf der rechten Seite eine Grenze im Wald, indem das Areal dahinter sich vom übrigen Wald unterschied: licht schien es im Vergleich, offener und frischer, was vor allem an den jungen Blättern der Buchen lag, die dort auf grasigem Waldboden wuchsen, während die restlichen drei Quadranten der Kreuzung von Kiefern, Eichen und Unterholz bewachsen waren, der Boden braun von altem Laub und Kiefernnadeln.

Natürlich zog das helle Grün der jungen Buchenblätter im Sonnenlicht meinen Blick an, und nachdem ich jetzt schon eine ganze Weile zügig marschiert war, ohne groß auf meine Umgebung zu achten, die ich ja als minderinteressanten stadtnahen Wald kannte, wurde ich nun langsamer, um mir diese bemerkenswerte Szene genauer anzusehen: frisches grünes Gras am Boden, helles Licht und so weiter, was man eben so als Frühlingsklischee kennt, in diesem Wald aber nicht erwartet.

Und dann blieb ich stehen, um noch genauer hinzusehen, denn weiter hinten, zwischen den Buchenstämmen und Büschen, die dort wuchsen, bewegte sich etwas. Der Rumpf eines großen Tieres war erkennbar, zu groß für die meisten Hunde, und die Bewegungen stimmten auch nicht. Natürlich sind die häufigsten größeren Tiere, die man in diesem Wald antrifft, Hunde, aber Hunde bewegen sich enthusiastisch und daher laut, diese Tier aber war leise und in seinen Bewegungen wenn nicht vorsichtig, so doch zumindest bedachtsam. An der bedachtsamen Bewegungsweise erkennt man in diesem stadtnahen Wald wilde Tiere, im Gegensatz zu Hunden und Pferden (die zweithäufigste wahrgenommene Tierart des Waldes), die vom Menschen das aufdringliche Auftreten übernommen haben.

Ein wildes Tier, größer als ein Hund, das mahnt auch mich zu unaufdringlicherem Auftreten im Wald. Gleichzeitig machte es mich aber neugierig, denn wenn ich schon im städtischen Wald vor einem wilden Tier davonlaufe, will ich wenigstens erzählen können, was für ein Tier es war, also blieb ich stehen, und beobachtete die Büsche und Buchenstämme und was dahinter wohl zum Vorschein kommen mochte. Für ein Wildschwein war es zu grau und zu... hochbeinig? Es ist erstaunlich, wie viel die menschliche Vorstellungskraft zu einem unvollständigen Bild hinzufügen kann, vor allem, wenn Bewegung dazukommt. Rehe oder Hirsche gibt es angeblich im Wald, aber doch nicht diesseits der Autobahn! Außerdem sind die auch eigentlich nicht grau. OK, ein wildes Tier, etwas größer als ein großer Hund, grau... Wolf natürlich. Nun, ebenfalls nicht hier, nahe der Stadt. Hoffe ich doch. Außerdem sind Wölfe nicht getigert, oder? Ich meine, das ist doch ein wesentliches Merkmal, wenn es um die Fellzeichnung geht, ob die Strukturen (falls überhaupt vorhanden) längs oder quer verlaufen, und bei Caniden geht es immer nur längs, oder? Nun, zumindest wünschte ich mir das in dem Moment, denn ein geheimnisvolles unbekanntes Tier schien mir immer noch ungefährlicher als ein Wolf oder ein Wildschwein. Gerade Wildschweine sind, der Statistik nach, die gefährlichsten Wildtiere im stadtnahen Wald, aber die Statistik täuscht natürlich. Löwen zum Beispiel sehen in dieser Statistik sehr ungefährlich aus, einfach weil nie jemand einen trifft in diesem Wald. Wenn man mal einen trifft, sieht die Gefährdungslage sicherlich anders aus.

Genaugenommen konnte ich eigentlich nur ein Stück Rumpf sehen, graugetigert, was zwischen den Buchenstämmen eine gute Tarnung ist, also warum ist mir das Vieh überhaupt aufgefallen? Und ein Stück Schwanz, Katzenschwanz, von einer Großkatze, ebenfalls grau mit dunkelgrau angedeuteten Ringen bzw. Querstreifen. Der Schwanz fiel zwischen den Zweigen eigentlich nur durch seine Bewegung auf. Die typischen Bewegungen eines Katzenschwanzes eben, nicht aufgeregt, aber jedenfalls wach, munter, interessiert könnte man vielleicht sagen. Natürlich mußte das Tier mich wahrgenommen haben, wenn nicht gewittert, so doch auf jeden Fall von weitem schon gehört, denn ich bin zwar unter Menschen eher ein Leisetreter, aber wirklich schleichen habe ich nie gelernt und nie gebraucht, da ich weder jage noch gewohnheitsmäßig Tiere beobachte.

Nun, die Neugier war dann wohl gegenseitig, und ich beschloß, einfach abzuwarten und zu beobachten, soviel Zeit muß sein, und wenn man eine Angelegenheit anstatt durch aktives Handeln durch Stillstand und Abwarten voranbringen kann, bin ich mit meiner Faulheit bestens qualifiziert. Der Trick ist natürlich, daß man wirklich mehrere Minuten unbeweglich stehenbleiben muß, und das ist leichter gesagt als getan. Wenn er das nicht ausdrücklich gelernt hat (z.B. als Jäger), bewegt sich in so einer Situation unweigerlich der Mensch zuerst, sobald die Konzentration nachläßt.

Mein Abwarten wurde belohnt, indem nach einiger Zeit der Kopf des Tieres hinter einem Baumstamm hervorlugte. Passend zum Schwanz ein großer Katzenkopf, grau mit dunkelgrauen Streifen, grüne Augen, spitze Katzenohren, was man eben sieht, wenn eine Katze neugierig um die Ecke schaut. Nur... zu hoch. Ich konnte ja den Rumpf durchs Gebüsch deutlich genug erkennen und nun auf der anderen Seite des Baumstamms den Kopf mindestens einen halben Meter höher als man erwarten sollte. Nun gut, was heißt das schon? Eine Katze dieser Größe sollte man hier im stadtnahen Wald sowieso nicht erwarten müssen, also kommt es darauf nun auch nicht an. Ein Luchs, Puma oder Schneeleopard gehört hier nicht her und würde daher nicht weniger Verwunderung auslösen als diese graugetigerte Giraffenkatze.

Ich mußte in meiner Verwunderung wohl sichtbar reagiert haben, denn der Katzenkopf verschwand wieder hinter dem Baumstamm, und ich überlegte mir, wie ich meine Beobachtungen überprüfen konnte; eine optische Täuschung oder Verwechselung schien doch zunehmend wahrscheinlich. Das einfachste wäre natürlich: hingehen, nachsehen. Wenn dann ein kleines Tier davonspringt, war es eine optische Täuschung. Wenn ich einen alten Teppich und ein Büschel Gras vorfinde, war es eine Verwechselung. Wenn aber stattdessen der Tiger zubeißt, war es das, und zwar endgültig, und so realistisch zuckte der graugetigerte Katzenschwanz immer noch zwischen den Büschen, daß ich die dritte Möglichkeit nicht einfach so ignorieren konnte.

Also muß die Technik helfen: Fotoapparat oder Fernglas. Normalerweise ist das Vieh weg, bis ich die Knipse herausgekramt habe, und in den übrigen Fällen zeigen die entstandenen Aufnahmen eindrucksvoll, wie gut sich der menschliche Sehapparat auf das Wesentliche konzentrieren kann, während die Technik immer nur den groben Überblick abbildet oder genau die falschen Einzelheiten auswählt. Ich werde mir, bei gegebenem Anlaß, einen besseren Fotoapparat zulegen müssen, mit stärkerem Zoom und der dann notwendigen Bildstabilisierung. Jetzt aber kramte ich stattdessen nach dem Fernglas, was die Tiere übrigens meistens genauso vertreibt.

Dieses nicht. Und das Fernglas bestätigte meine bisherigen Beobachtungen: eindeutig der Rumpf eines großen Tieres, grau getigertes Fell, das durch die optische Vergrößerung einladend flauschig wirkte, definitiv keine weggeworfene Rolle Teppichboden. Auch der Schwanz blieb ein grauer Katzenschwanz, kein Grasbüschel im Wind. Und der Baumstamm, der den Kopf verbarg, blieb ein Baumstamm mit langweilig-grauer Rinde und verbarg den Kopf und mutmaßlich ungewöhnlich langen Hals der grauen Großkatze. Ich begann also, langsam den Weg weiter zu gehen, um besser sehen zu können, was sich hinter dem Baumstamm verbarg. Durchs Fernglas, damit ich mir meiner Sache gleich sicher sein konnte.

In einem Film würde der Held jetzt in eine Pfütze treten oder über einen Stock stolpern, weil er ja den Weg nicht sieht, und das Monster würde über ihn herfallen, wenn er so lächerlich am Boden liegt. In der Realität konnte ich mich darauf verlassen, daß der Weg in diesem stadtnahen Spaziergängerwald eben, frei von Pfützen und einigermaßen sauber war, und daß meine Füße in den bequemen ausgelatschten Halbschuhen nicht so leicht den Halt verlieren würden. Also konzentrierte ich mich auf den Baumstamm im Fernglas, während ich vorsichtig weiterging, bis ich ein Bündel Schnurrhaare erkennen zu können glaubte. Eindeutig zu hoch für den Rumpf auf der anderen Seite des Baumstamms. Sollte ich es mit zwei graugetigerten Großkatzen zu tun haben? Das würde den Mangel an Fluchtverhalten während meiner Fernglassucherei in der unübersichtlichen Umhängetasche erklären. Das würde allerdings auch sofortiges Fluchtverhalten meinerseits nahelegen.

Während ich noch überlegte, welches im Notfall die aussichtsreichste Richtung für eine Flucht wäre (es sah mau aus für einen untrainierten Stubenhocker wie mich) oder ob man auch zwei Raubkatzen durch aufrechten Stand und festen Blick beeindrucken könnte (selbst wenn man das könnte; mir war es nicht einmal mit einer Hauskatze gelungen), kam mir die Gegenseite zuvor, indem zu den Schnurrhaaren wieder der Rest des Katzenkopfes hinter dem Baumstamm hervorkam. Und mehr. Und nun kam ich mir reichlich dumm vor, offenbar war ich auf eine ungewöhnliche Verkleidung hereingefallen. Neben dem Baumstamm stand jetzt eine zierliche Frau, die sich als graugetigerte Katze verkleidet hatte: aufwendige, realistische Maske, Ärmel, Handschuhe, Hosen, Schuhe, alles mit sehr echt wirkendem Fell versehen. Wie stellt man eigentlich mehrfarbiges Kunstfell her? Und die Farben nicht nur einfach wahllos gemischt, sondern offensichtlich ein sorgfältig geplantes Streifenmuster. Airbrush? Funktioniert das auf diesem Fusselzeug? Mußte eine Heidenarbeit gewesen sein. Nur das rote T-Shirt paßte nicht dazu, das sah regelrecht enttäuschend billig aus, und dazu noch etwas verdreckt. Außerdem trägt man entweder Maske zu normalen Klamotten oder eine komplette Verkleidung, aber doch nicht so ein Gemisch.

Ich nahm natürlich sofort das Fernglas herunter. Es ist unhöflich, andere Menschen anzustarren, erst recht mit technischen Stielaugen. Und das gilt auch, wenn diese Menschen ungewöhnlich gekleidet sind oder sich ungewöhnlich verhalten oder offensichtlich am falschen Ort sind. Die Stadt ist groß, da muß man tolerant sein und darf sich keine Überraschung oder übertriebenes Interesse anmerken lassen. Obwohl es schon wirklich schwer vorstellbar war, wie jemand in diesem Aufzug in den Wald kommt.

Andererseits: die Stadt ist groß, und beherbergt viele exklusive Parties, vor allem Freitags und Samstags, wo nur ausgewähltes Publikum, exklusiv oder auch exotisch gekleidet, zugelassen ist. Da mag es schon sein, daß jemand am Samstagvormittag in unpassender Kleidung am unpassenden Ort aufwacht. Vielleicht war sie mit jemandem im Auto nach Hause gefahren und man hatte unterwegs angehalten, um frische Luft zu schnappen oder so (die Autobahnabfahrt und eine Landstraße waren ja nur wenige hundert Meter entfernt), und sie hatten sich gestritten oder unter dem Einfluß exklusiver Substanzen sonst eine Dummheit begangen... die Stadt ist groß, da kann viel verrücktes passieren, und der Wald gehört zur Stadt.

Das war jetzt eine unangenehme Situation. Ich konnte ja schlecht weitergehen und so tun, als hätte ich nichts gesehen, nachdem ich minutenlang mit dem Fernglas in ihre Richtung gestarrt hatte. Ansprechen konnte ich sie aber auch schlecht, denn dazu war die Entfernung zu groß. Abgesehen davon ist es absolut nicht meine Gewohnheit, fremde Menschen ohne offensichtlichen Anlaß anzusprechen, und ich bin nicht gut darin. Andererseits würde vielleicht Höflichkeit als Anlaß ausreichen: ich könnte mich für das Fernglasstarren entschuldigen und vielleicht beiläufig mehr über dieses aufwendige Kostüm erfahren. Ich setzte also meine Brille wieder auf, steckte das Fernglas weg, und ging weiter, den Weg entlang, auf die seltsame Frau zu, damit wir uns in normaler Lautstärke unterhalten konnten.

Während ich noch meinen Mut zusammennahm und mir außerdem überlegte, wie es nach einem "Hallo" weitergehen sollte, dreht sie sich plötzlich um und lief zügig zwischen den Büschen davon. Ich blieb verblüfft stehen, denn was ich da sah, konnte unmöglich ein verkleideter Mensch sein: auf Höhe des Hinterns war sozusagen der Rumpf und Hinterleib einer großen Raubkatze angeschlossen, oder vielmehr angewachsen, denn alle vier Beine bewegten sich mit einer natürlichen Anmut im Einklang, die eine Mechanik unmöglich leisten konnte. Klar, wenn jemand sich so ein aufwendiges gefärbtes Pelzkostüm baut, warum sollte er dann nicht noch einen künstlichen Rumpf und zwei Hinterbeine ergänzen, um gewissermaßen als Zentaur aufzutreten? Das eine ist schon derart übertrieben, daß es darauf nun auch nicht mehr ankommt, und der Effekt ist jedenfalls spektakulär und würde auf der abgefahrensten Freakshow noch Eindruck machen. Aber woher kommt die Bewegung der Hinterbeine? Für Fotos wäre so ein Kostüm sicherlich möglich, und zum Herumstehen oder -sitzen und Reden, vielleicht in einem Theaterstück, auch kein Problem, aber hier sah ich alle vier Beine in Bewegung, und alle leisteten offensichtlich ihren Beitrag zu Gleichgewicht und Antrieb, ganz wie bei einem lebendigen, vierbeinigen Tier.

In wenigen Sekunden war das Wesen, was auch immer es war, verschwunden, und ich starrte noch ein Weilchen auf die Lücke zwischen den Zweigen und Baumstämmen, wo ich das rote T-Shirt und die weiße Schwanzspitze zuletzt gesehen hatte. Dann ging ich zu dem Baum, hinter dem es gestanden hatte und suchte nach Spuren. An einer Wurzel waren Kratzer, wohl von den Krallen der Vorderpfoten. Einige kurze Kratzer fanden sich auch am Baumstamm, also hatte es wohl auch Krallen an den Fingern. Falls das das richtige Wort ist. Und überhaupt, hätte das nicht eher "Mittelpfoten" heißen müssen, mit denen das Vieh auf der Baumwurzel gestanden hatte? Wie ist denn da die richtige Bezeichnung? Es muß ja eine geben, Insekten haben auch sechs Beine. Aber keine Pfoten.

Ich kramte also den Fotoapparat heraus und fotografierte die Kratzer, nicht daß es viel nutzte; die konnten genausogut von einem Waldarbeiterwerkzeug stammen, oder von jemandem mit einem Taschenmesser und Langeweile. Am Boden war nicht viel zu sehen. Einige dunkle Stellen verrieten die Feuchtigkeit umgedrehter Blätter, aber die Sorte Spur hinterläßt jeder Spaziergänger oder Hund genausogut. Ein Stück sandigen Bodens wies einige Dellen auf; deutlicher werden Spuren im losen Sand eben nicht, also war hier auch kein Beweis zu holen. Im Film gäbe es jetzt ein Stück feuchten Bodens, vielleicht den Rand einer Pfütze, mit deutlichen Pfotenabdrücken zum Fotografieren, aber im Film wäre ich ja schon längst beim Anschleichen in einer Pfütze ausgerutscht und vom Monster ausgelacht oder gefressen worden. In der Realität gab es beides nicht, und so sehr mir das Ausgelachtwerden normalerweise zuwider ist, hier wäre es das vielleicht wert gewesen, wenn ich dafür einen Beweis bekäme, das jenes wasauchimmereswar real war. Dem Wesen weiter durch den Wald zu folgen schien mir aussichtslos; einholen würde ich es nie, solange ich nach Spuren suchen mußte. Wenn ich ihm sofort hinterhergelaufen wäre, sähe das anders aus: ich wäre ihm wahrscheinlich nachgerannt und hätte zuwenig auf den Weg, oder vielmehr den Mangel daran geachtet, so daß die Verfolgung für mich mit einem schmerzhaften Sturz geendet hätte.

Und das war's. Keine Fotos, keine Andenken, kein Zeitungsausschnitt, der Jahre später das Rätsel aufklärt, nichts. Ich bin in den nächsten Wochen und Monaten noch oft an jener Wegkreuzung im Wald gewesen und habe das Waldstück, in dem das Wesen verschwunden war, umkreist, in der abergläubischen Hoffnung, es möge sich wieder sehen lassen, aber warum sollte es das tun? Warum ausgerechnet wenn ich da bin? Warum ausgerechnet dort? Vielleicht lebt es normalerweise in einem ganz anderen Teil des Waldes. Vielleicht hat es zu einem anderen Spaziergänger mehr Vertrauen gefaßt, jemandem mit Hund oder Pferd, der mit Tieren besser umgehen kann als ich.

Vielleicht war es ja auch nur Einbildung. Ich wüßte zwar nicht, woher die Idee überhaupt kommen sollte, schließlich bin ich nicht besonders kreativ oder fantasievoll, aber man liest ja gelegentlich von erstaunlich realistischen Sinnestäuschungen, die von irgendwelchen neuronalen Störungen hervorgerufen werden. Und immerhin habe ich das Wesen nur gesehen und mit keinem anderen Sinn wahrgenommen. Falls es echt war, hatte es beim Weglaufen bestimmt Geräusche verursacht, aber darauf hatte ich in meiner Verblüffung über die Dame mit zuviel Unterleib gar nicht geachtet. Vielleicht sollte ich mal zum Arzt gehen, und mir sagen lassen, daß ich hätte fünf Jahre früher kommen sollen, um die Nervenfäule noch aufzuhalten. Vielleicht sollte ich auch einfach nur weiter gründlich die Zeitung lesen, vielleicht wird ja doch noch irgendwann ein merkwürdiges Skelett gefunden, und dann kann ich diesen Text wieder heraussuchen und einige letzte Absätze ergänzen.

Das Kleingedruckte: Die Spezies Chakat hat Bernard Doove erfunden, Chakat Tigermist habe ich mir ausgedacht.