Tage im Juni - LEHRMEISTER (5) - Ger

Story by Kranich im Exil on SoFurry

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#15 of Tage im Juni

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TAGE IM JUNI

Lehrmeister

- 5 -

Chucks Zimmer war das letzte im Gang, genau neben einem raumhohen Flurfenster. Vom neunten Stock aus hatte man einen beeindruckenden Blick über die Südstadt. Niklas konnte den Markt sehen und dahinter den Park. Sogar sein Wohnviertel konnte man weit hinter den Bahnschienen erspähen. Es zog sich wie ein dunkler Fleck am Fuß der Berge entlang.

Er spielte mit seinen Fingern und starrte ziellos in die Ferne. Lieber hätte er hier am Fenster gestanden als Chucks Zimmer betreten. Er warf einen Seitenblick auf die Zimmernummer, die groß und hinterleuchtet an der Tür prangte, wie ein Warnzeichen.

Er war so ein Feigling! Er versuchte sich zu beruhigen und klar zu machen, dass es bloß Chucks war. Immer noch der kleine, pummelige Tiger. Nicht einmal die Hälfte seines großen Bruders -- okay, vielleicht zwei Drittel, aber die Masse war anders verteilt. Vielleicht waren es auch nur die Augen des kleinen Tigers. Er malte sich aus, wie sie ihn anstarren würden.Bestimmt hasst er mich, dachte Niklas. Und das auch zu Recht.

Jannik tippte ihm auf die Schulter. Genug die Stadt beobachtet. Er drückte dem Waschbären die Karte in die Hände und klopfte an der Tür. Es kam keine Antwort.

Beide warteten. Es regte sich nichts. Jannik beschloss, sie einfach selbst hereinzulassen. Niklas klammerte sich an der Karte fest und atmete ein. Schluckte.

Aus dem Zimmer strömte stickige Luft, die genauso künstlich roch wie unten. Nein, die Luft schien vielmehr aus den Zimmern durch die Stockwerke des Gebäudes nach unten zu kriechen.

Im Bett auf der anderen Seite des Raumes erspähten sie Chucks. Obwohl er vielmehr aussah wie der Darsteller aus einem Horrorfilm, den man hier geknebelt vergessen hatte und der zu schwach war, um noch länger nach Hilfe zu rufen. Weiße Bandagen waren um Gesicht und Oberkörper gewickelt. Auch die Arme waren verbunden. Sein Kopf war in einem unbequem aussehenden Kissen versunken und das Bett völlig zerwühlt, obwohl er scheinbar schon eine ganze Weile nicht mehr aufgestanden war.

Niklas keuchte. Es war viel schlimmer, als er es in Erinnerung hatte. Arik hatte nichts vom kleinen Tiger unversehrt gelassen. In seinen Ohren hallte das laute Knacken des herunterschnellenden Stockes wider. Er roch die metallische Luft. Sein Herz sprang wild in seiner Brust herum. Er drückte die Karte vor sie, um das Zittern seiner Hände zu unterdrücken. Die anderen hatten Recht. Niklas war ein Dreckskerl. Warum war er überhaupt hier?

Eine Tür hinter ihnen knarrte. Niklas fuhr zusammen. War Chuma etwa schon da?

Er drehte sich. Machte sich zur Flucht bereit. Dort starrte er aber bloß in Chucks Gesicht. Verwirrt sprang sein Blick zurück zur Mumie. Dann realisierte der Waschbär, dass sich das Bett des Tigers in der anderen Ecke des Zimmers befand und sie ein anderer Patient sein musste.

Chucks musterte die beiden Besucher überrascht und ließ dann die Tür zum Badezimmer hinter sich zufallen. Sein Gesicht war ein Mosaik aus gepolsterten Pflastern und Mullbinden, zwischen denen einige Flecken gelben Fells hervorschauten. An anderen Stellen war es rasiert.Ob seine Streifen mit den Haaren nachwachsen?

Chucks Augen lagen für einen Moment auf dem Waschbären, aber Niklas konnte durch die Verbände nicht sagen, welchen Ausdruck sie hatten.

»Wie geht es dir?«, fragte Jannik und endlich ließ Chucks Blick von Niklas ab.

»Okay«, erwiderte er und setzte sich auf sein Bett. Er schob einen Stapel Comics und eine Fernbedienung beiseite.

»Sie sagen, dass ich noch eine Woche hier bleiben soll«, meinte er und fügte mit einem Augenzwinkern hinzu: »Wenn ich mich gut anstelle, sogar zwei. Das heißt, ich verpasse die Physikklausur. Und das Sportfest.« Dann schnaufte er und hielt sich die Wange. Zu viel Grinsen tat sicher dem Gesicht weh.

»Wir dachten, du könntest etwas Verpflegung gebrauchen«, sprach Jannik und hielt die gelbe Packung hoch.

»Ist das Coco Crunch?«, fragte Chucks und sprang vom Bett. »Sehr gut. Das Schwein von Oberschwester erlaubt mir nur Brei.« Er ließ die Packung zwischen den Streben unterm Bett verschwinden und bedankte sich bei Jannik.

Niklas würdigte er keines Blickes, während sich die beiden über Hausaufgaben unterhielten und Chucks sich freute, aktuell keine machen zu müssen. Hier herumzustehen war noch viel schlimmer als Niklas befürchtet hatte. Wie das fünfte Rad am Wagen. Wenn ihm der Tiger wenigstens Beleidigungen an den Kopf werfen oder seiner Wut anderweitig Ausdruck verleihen würde, wäre das besser, als ignoriert zu werden. Stattdessen aber frage Chucks nach Ayo und ob er auch vorbei käme.

»Er hat momentan viel zu tun«, log Jannik und stupste daraufhin Niklas an, damit er Chucks die Karte geben solle, die er die ganze Zeit festkrallte, als wäre seine Seele darin gefangen. Sie war ein wenig verbogen. Niklas strich sie glatt und hielt sie vor sich. Chucks starrte sie ausdruckslos an.

»Gemalt?«, fragte er.

»Von Jannik«, gab Niklas zurück und deutete neben sich.

»Ah«, Chucks wandte sich wieder dem Luchs zu. »Sieht gut aus. Ich wusste nicht, dass du zeichnen kannst.«

Der kleine Waschbär stand schweigend da wie ein Fremdkörper. Er ließ seinen Blick ziellos wandern. Über die kalkweißen Wände und zum Fenster hinaus. Ein Schwarm Vögel flog vorbei. Er blickte ihnen nach, wie sie sich wogten und im Wind tanzten, in einer stillen Choreographie. Als wären sie eins. Sie wurden zu weißen Punkten, die in den Himmel eintauchten und entschwanden.

Er wünschte sich, davonfliegen zu können. In die Ferne. Woanders zu sein. Nur nicht hier.

Er hielt das nicht länger aus. Er schluckte. »Chucks.« Der Tiger sah ihn von der Seite an. »Es tut mir echt leid«, sprach Niklas. »Es ist alles scheiße gelaufen --«

»Lass es«, unterbrach ihn Chucks und setzte sich aufs Bett. Seine blauen Augen stachen zwischen dem Verband hindurch. Jannik sah beide verwundert an.

»Es ist nicht deine Schuld. Sondern meine«, erklärte der Tiger plötzlich. »Ich war blöd. Hätte es einfach lassen sollen. Aber ich habe nicht gewusst, dass deine Brüder Psychos sind.« Er zog sein Smartphone vom Tisch und warf einen Blick darauf. »Außerdem ist die Sache gegessen. Niemand redet mehr über die heiße Schokolade.« Er hielt den Bildschirm hoch. »So viele Nachrichten habe ich noch nie bekommen. Jeder will, dass es mir besser geht.«

Niklas starrte auf den Boden. Er wusste genau, wie sich Chucks fühlte. Oder nicht. Es war anders. Niemand scherte sich mehr über den peinlichen Unfall. Jetzt redeten alle nur noch über das Arschloch, das Chucks verprügelt hat.

»Ich sage, dass ich den Angreifer nie gesehen habe. Mich an nichts erinnere, okay?« Chucks Blick bohrte sich gegen Niklas Stirn. Der kleine Tiger schien sich zur Ruhe zu zwingen, aber Niklas konnte erkennen, dass er zitterte. Je länger der Moment anhielt, desto deutlicher wurde, dass Chucks Angst hatte.

»Ich will deine Psycho-Brüder nie mehr sehen«, raunte er. »Ihr seid alle gestört. Ich werde nicht mehr drüber reden. Und ich will, dass du nicht mehr mit mir redest. Am besten fängst du jetzt gleich damit an. Okay?«

Chucks und Niklas Blicke trafen sich für einen Moment. Es fühlte sich wie eine unerträgliche Ewigkeit an.

»Die Sache zwischen uns ist erledigt, richtig?«, drängte der Tiger.

Der Waschbär nickte stumm. Er atmete ein und verließ ohne weitere Worte das Zimmer. Jannik blieb verdutzt zurück.

Niklas zog die Tür hinter sich zu und verschnaufte. Er fühlte sich deplatziert. Verstoßen. Beschämt. So wie immer. Chucks war einer mehr, der nichts vom Waschbären wissen wollte. Ihm wäre es sicher recht, Niklas würde einfach vom Erdboden verschluckt werden und nie wieder auftauchen. Chuma ging es wahrscheinlich genauso. Und all den anderen, die Niklas Nachrichten hinterließen. Und wenn sie so weiter machten -- beschwor er eine schmerzende Hoffnung herauf -- würde er irgendwann wirklich verschwunden sein. Endlich von allen ignoriert werden wie ein Geist, der nie existierte. Und alleine.

Was für ein verschwendeter Tag. Aber er war noch nicht zu Ende, denn Teil Zwei der Tigerbrüder bog gerade um die Ecke. Bevor der kleine Waschbär überhaupt ans Abhauen denken konnte, entdeckte in Chucks' Bruder.

Niklas machte sich um die andere Ecke aus dem Staub.

»Hey!«, hörte er Chuma brüllen, gefolgt vom Hämmern sprintender Füße.

Der kleine Waschbär rannte den Flur hinab, bis zum Geländer des Innenhofs. Er hetzte den Rundgang entlang.

Unmöglich. Chuma war direkt hinter ihm. Er konnte seinen Atem hören. Und seinen Herzschlag. Er konnte die Fleischmaschine nicht abhängen. Seine Beine waren zu kurz. Seine Füße zu langsam. Es gab keinen Ausweg. Je weiter er rannte, desto mehr holte der Tiger auf.

Niklas stolperte, verlor fast das Gleichgewicht, hüpfte auf einem Fuß einige Meter voran und fing sich dann wieder.

»Ich will nur reden!«, rief Chuma.

Niklas glaubte ihm kein Wort. An der Wand liefen mehrere große Rohre entlang, die der Belüftung dienten. Ohne nachzudenken sprang er zwischen sie und zwängte sich hindurch. Dahinter war eine flache Nische. Er presste sich gegen die Rückwand. Viel zu wenig Platz für den Anabolika-Tiger.

Chuma blieb vor den Rohren stehen und lief an ihnen entlang wie ein Bluthund. Sein Blick fiel zwischen ihnen hindurch. Niklas zog seinen Kopf in den Schatten zurück. Wie ein Feigling. Wie ein Schwächling. Wie immer.

Es knallte ohrenbetäubend, als Chuma seine Faust gegen eines der Rohre schlagen ließ. Niklas spürte das Zittern des Blechs am ganzen Körper.

»Hör zu«, brummte Chuma, »ich will, dass du deinem bescheuerten Bruder sagst, dass er auf mich warten soll!«

Cousin, nicht Bruder, zischte Niklas.

»Wenn ich ihn sehe, reiße ich ihm das dreckige Gesicht in Stücke. Sieh ihn dir gut an, denn danach wirst du ihn nicht mehr erkennen! Verstanden?!«

Er schlug erneut gegen das Rohr. Niklas Ohren dröhnten. »Sag ihm das!«

Er lief noch einmal an den Rohren entlang. »Und jetzt verschwinde!«, befahl er und nahm dann den Rückweg.

Niklas beobachtete, wie er um die Ecke bog. Der kleine Waschbär kauerte regungslos in der schattigen Nische und lauschte, bis er die Schritte des Tigers nicht länger hören konnte. Er zitterte.

Schon wieder ein Geräusch hinter den Rohren. Niklas riskierte keinen Blick. Janniks Kopf zwängte sich zwischen ihnen hindurch.

»Alles in Ordnung?« Er musterte den kleinen Waschbären. Niklas sprach nicht.

»Chuma ist weg. Bei Chucks im Zimmer«, sprach der Luchs leise, »Wir können den Fahrstuhl auf der anderen Seite nach unten nehmen und verschwinden.«

Niklas war nach der Ansprache von Chuma sichtlich neben der Spur und nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Dass der kleine Luchs in dieser Situation wieder so nett zu ihm war, irritierte ihn und war ein weiterer Störfaktor im Gewirr seines Kopfes.

»Wir können zum Park hinterm Krankenhaus gehen, wenn du magst. Dort ist um diese Zeit niemand.«

Niklas grübelte eine Weile nach. Er wollte definitiv nicht nach Hause und vor allem keine Sekunde länger im Krankenhaus bleiben als nötig. Frische Luft und Ruhe klangen da gar nicht so verkehrt. Der Luchs lächelte freundlich und so nahm Niklas seinen Vorschlag mit einem Kopfnicken an.

End of chapter

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